Selbst das fahle Morgenlicht scheint den feuchtwarmen Aggregatzustand der umgebenden Treibhausluft angenommen zu haben. Träge vermischt es sich mit dampfenden Nebelfetzen, die sich mit einer tiefhängenden Wolkendecke verbinden, und schält dabei zögernd das graue Asphaltband, das uns an die Ostküste Malaysias führen wird, aus dem undurchdringlichen Grün des tropischen Regenwalds.
Zu dieser frühen Morgenstunde sind wir noch ziemlich alleine unterwegs, wir können die BMW und die Kawasaki von der Leine lassen. 400 nächtliche Kilometer liegen bereits hinter uns, und für die restlichen 1300 km zurück nach George Town bleiben Joachim und mir noch beruhigende 19 Stunden. Viele davon bleiben unvergesslich: Die Fahrt über die grandiose Berg- und Talbahn zum Beispiel, die uns gerade durch einen der ältesten Regenwälder der Erde führt, erweist sich als nachhaltig beeindruckendes Naturerlebnis. Ich genieße die aufkommenden Glücksgefühle in vollen Zügen, denn ich weiß aus eigener Erfahrung, es gibt nicht das eine, große Glück. Es gibt viele Glücks, die meisten klein, andere groß, man muss sie nur suchen. Und manchmal findet man sie sogar.
Um das Motorradglück perfekt zu machen, hat der tropische Fön unsere malerische Reiseroute zum großen Teil vom nächtlichen Regen befreit, nur wenige Abschnitte sind noch tückisch feucht. Die Asphaltdecke befindet sich in erstaunlich gutem Zustand, die meisten Kurven öffnen sich weit und unsere Bikes lassen sich fahren wie auf einer Rennstrecke. Auch wenn wir dabei die unverbindlich empfohlene Landstraßen-Geschwindigkeit mal mehr, mal weniger weit hinter uns lassen, rasen wir nicht, wir reisen. Denn so attraktiv die Route Nr. 4 ist, sie fordert unsere volle Konzentration. Ab und zu überrascht uns ein liegengebliebener Uralt-LKW, der mit mächtigen Wurzeln herausgebaggerter Tropenbäume überladen wurde, dann wieder müssen wir um überfahrene Affen herumkurven, Haken um herabgefallene Äste, abgerissene Lianen und sogar um eine leblose Riesenschlange schlagen, die sich nicht schnell genug vor den heran nahenden Holztransportern auf die andere Straßenseite retten konnte.
Ein kurzer Rückblick auf den Wecker. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die frisch und fröhlich um 3 Uhr nachts aus dem Bett hüpfen. Doch Joachim, der unseren SaddleSore initiiert hat und die Streckenführung übernehmen wird, konnte mich mit einem schlauen Plan ködern: Wenn man noch in der malaysischen Nacht startet, auf dem mehrspurigen Expressway hoch zur thailändischen Grenze fährt, dann umkehrt und sich erst bei Tagesanbruch auf den Weg durch den Regenwald macht, senkt man das Risiko quasi auf Null, in der tiefen Dunkelheit einer unbeleuchteten Dschungelstraße auf einen ebenso unbeleuchteten Elefanten zu treffen. Also spät abends einen der beiden Koffer gepackt, die Joachim ans Heck seiner BMW 800 GS einklinkt, den Wecker auf 03:00 Uhr gestellt und voller Vorfreude und Tatendrang eingeschlafen. Nach einer kurzen Nacht und zwei Tassen Kaffee stehen wir pünktlich um 03:50 Uhr an der nächstgelegenen Zapfsäule, um uns ordnungsgemäß die erste Beweisquittung mit Ort, Datum und Uhrzeit ausdrucken zu lassen. Start frei für den SaddleSore, die Uhr läuft.
In schlaftrunkenen Augen die Frage nach dem Warum.
Es gibt leichtere Aufgaben, als einen SaddleSore in Malaysia zu absolvieren. Im bequem gepolsterten Sofasattel einer Harley beispielsweise, deren großvolumiger V2 den sonnenbebrillten Iron Butt-Aspiranten auf einem der endlos langen kalifornischen Highways in den rotglühenden Sonnenuntergang eines amerikanischen Westerns stampft. The lonesome rider, born to be mild.
Ich habe viele begeisterte Berichte von kalifornischen SaddleSore Finishern gelesen, aber ich kenne auch die Reportage eines britischen Motorrad-Journalisten, der sich so eine Tortur nie, nie wieder antun will. Am Ende mussten ihn herbeieilende Helfer vom Motorrad heben. Zugegeben, der gute Mann hat die Strecke komplett im strömenden englischen Regen gefahren, so etwas kann auf Dauer zermürben.
Aber auch wir sind nicht in Kalifornien. Wir befinden uns in Malaysia. Und in Malaysia regnet es ebenfalls oft. Und heftig. Sehr, sehr heftig. Auch die Monsunwarnung für die Ostküste ist uns nicht verborgen geblieben. Vielleicht stand deshalb in den schlaftrunkenen Augen von Daniela, die unsere Abfahrt mit ihrer Unterschrift bezeugt, die unausgesprochene Frage: Warum?
Eine Frage, die durchaus berechtigt ist. Gerade für Nicht-Biker hört sich so ein SaddleSore ein bisschen extrem an. Extrem anstrengend, extrem sinnlos, extrem langweilig oder extrem unvernünftig, je nach Perspektive. Über 1000 Meilen in unter 24 Stunden? Auf einem Motorrad? In den Tropen? Weiß die Heimleitung davon?