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„I don’t want a yacht. I want hugs.“ Über die seltsamen Gewinn-Erwartungen des Martin Morales.

Reisenotiz aus meinem Mobile Worte Blog. Links unten im Bild: Das ADINA.

Reisenotiz aus meinem Mobile Worte Blog. Links unten im Bild: Das ADINA.

Ein Montagstermin in London, wir übernachten irgendwo in Shoreditch. Hotelfrühstücke sind nicht so unser Ding, aber nur einen Scone-Wurf von unserer volldigitalisierten Schlafstätte entfernt entdecken wir ein kleines peruanisches Restaurant, das dann gar nicht so klein ist, wie es von außen erscheint. Kurz London’s 10 Best Liste gegooglet, und siehe da: Das ANDINA entpuppt sich als Empfehlung Nr. 1.

Die wenigen Superfood-Frühstücker, von Marketing-Strategen als Young Urban Nomads identifiziert, sitzen vor Peruvian porridge (amaranth, orange zest, golden berries, figs, purple corn syrup) und starren konzentriert in ihre Powerbooks, iPads und iPhones. Nirgendwo brennt ein Samsung.

Wir finden einen netten Zweiertisch am Fenster, die Bedienung bringt uns zwei erstaunlich gute Kaffees. Eine eigene Mischung aus dem peruanischen Hochland, erklärt uns der sympathische Kellner auf Nachfrage, vollmundig, schokoladig, würzig, die feine Säure schön eingebunden. Dazu bietet er uns heiße Quinoa Milch an, sollten wir der Laktose-Unverträglichkeit frönen. Wenig später erscheinen vor uns zwei Teller mit absolut perfekt pochierten Eiern auf reifer Avocado und angeröstetem Sauerteigbrot, und auch der Spinat und die Pilze sind so einfach und so fantastisch gewürzt, dass wir nach dem Trick fragen.

Die Bedienung lacht und deutet auf ein Kochbuch an der Theke: CEVICHE von Martin Morales. Ceviche? Moment mal. Langsam dämmert es uns, gestern Nacht sind wir noch daran vorbei gelaufen. Das Ceviche in Soho, erst wenige Jahre alt und schon eine Pilgerstätte für Londons Kulinariker.

Während wir im Cookbook of the Year 2013 blättern, krault unser kulinarischer Betreuer in der offenen Küche den Nacken des Küchenchefs. Die liebevolle Geste, der man im stressigen Gastronomiebetrieb nur sehr, sehr selten begegnet, beantwortet so ganz nebenbei unsere unausgesprochene Frage, warum in diesem Restaurant eine so ungewöhnlich warmherzige Atmosphäre herrscht.

Diese Frage hätte uns auch der Mann beantworten können, der in diesem Moment das Andina betritt. Mit seinem bunten Rucksack auf dem Anorak sieht er aus wie ein freundlicher Tourist, ist aber der freundliche Autor des vor uns liegenden Kochbuchs. Während das gesamte Team begrüßt wird, macht unser kraulender Kellner, den wir mittlerweile fest ins Herz geschlossen haben, seinen Chef auf die inquisitorischen Gäste aus Berlin aufmerksam.

Irgendwann sitzt Martin Morales bei uns am Tisch, und was dann folgt, ist eines der interessantesten Gespräche, das wir jemals mit einem Restaurantchef geführt haben. Oder genauer: Mit einem Restaurantchef, Koch, Marketingmann, DJ, Label-Mitinhaber, Charity Board Member, Galerist und Autor in einer Person.

Mit wenigen Worten löst sich Martin Morales aus der Umklammerung des Klischees, das ich dem erfolgreichen Gastronomen bereits in der ersten Minute übergestülpt habe. Ja, er habe mit Steve Jobs gearbeitet, war Gründungsmitglied von iTunes und jüngstes Vorstandsmitglied von Disney Music, aber das heißt noch lange nicht, dass er ein reicher Mann wäre, der sich mit früh gescheffelten Millionen nun das trendige Hobby Koch & Restaurantchef leisten kann. Im Gegenteil. Aus seinem Hausverkauf blieben ihm 100.000 Pfund, die er komplett in das CEVICHE gesteckt hat, und deshalb ist die Wohnung, in der er lebt, gemietet. So what? Er muss keine Reichtümer anhäufen, um glücklich zu sein, sagt er, und ein paar herzliche Umarmungen sind ihm lieber als eine Yacht.

Ich lache, doch Martin Morales ist es ernst.

Vielleicht weigert sich der kleine Zyniker in mir, Nächstenliebe, Demut und Bescheidenheit in der Person eines erfolgreichen Unternehmers, der sich zudem noch gut verkaufen kann, zu erkennen und anzuerkennen. Vielleicht ist Martin Morales seltsam, vielleicht ist es nur seine Weltsicht. Oder vielleicht weiß ich einfach zu wenig über sein Leben. Nur dass es ihn mit Sicherheit geprägt hat, als er mit elf Jahren Peru verlassen musste, weil sein Vater von Guerillas des „Leuchtenden Pfads“ bedroht wurde (später wurde Martin in Mexiko gekidnappt, aber das ist eine andere Geschichte). Und mit ebensolcher Sicherheit kann man wohl behaupten, dass man nach solchen Erlebnissen eine ganz eigene Einstellung zum Thema Freiheit entwickelt.

Die Zeit verfliegt. Während die Nachbartische fürs Lunch eingedeckt werden, diskutieren wir noch immer über unsere persönlichen Definitionen von Erfolg, über den Unterschied zwischen der seiner Meinung nach überbewerteten Happiness und dem sinnvolleren Content (Zufriedenheit), über Moral und die gesellschaftliche Verpflichtung, die man als Unternehmer trägt.

Als Teenager hat Martin Morales sein Geld als Küchenhilfe, als Kellner und hinter der Bar verdient, später, während des Studiums, als international gefragter DJ. Seine „Global Kitchens“ sind Legende: Pop-Up-Events, in denen er gleichzeitig gekocht und aufgelegt hat.

Sich selbst bezeichnet der leidenschaftliche Koch und Musikliebhaber nicht als Unternehmer, sondern als freien Kreativen, als jemanden, der die Freiheit besitzt und nutzt, jede Idee, die ihn beschäftigt, auch in die Tat umsetzen zu können. Ob er kulinarische und künstlerische Events initiieren, Kochbücher schreiben, Restaurants oder Galerien eröffnen oder peruanischen Waisenkindern ein neues Zuhause geben will, Martin Morales steuert mit bewundernswerter Energie und „loving care“ auf seine Ziele zu.

Loving Care, diesen Leitsatz hatten ihm seine peruanischen Großtanten, bei denen er als kleiner Junge das Kochen gelernt hat, schon früh mit auf den Weg gegeben, und dieser Maxime folgt er noch heute. Das ist auch der Grund, warum Martin Morales die überschaubaren Gewinne aus seinen Restaurants nicht in eine Yacht stecken wird. Nicht, dass ihm Gewinn egal wäre, dazu ist er zu sehr Kaufmann. Nur investiert er das Geld lieber in die gute Entlohnung seiner guten Mitarbeiter, in seine Hilfsorganisation, in die Förderung peruanischer Künstler, die Publizierung peruanischer Musik und nicht zuletzt in seine Mission, die Botschaft der peruanischen Küche weit hinaus in die Welt zu tragen.

Blick ins Buch.

Blick ins Buch.

Es ist spät geworden, wir haben einen Termin und müssen los. Das Kochbuch wechselt den Besitzer, und Martin Morales macht zum Abschied das, was offensichtlich seinen ganzen Angang ans Leben ausdrückt: Er umarmt uns herzlich.

Eine Reise ins Herz der finnischen Seele.

Mit Mika Häkkinen in Lappland. Advertorial. Kunde: Mercedes-Benz.

Mit Mika Häkkinen in Lappland. Advertorial. Kunde: Mercedes-Benz.

Mit einem eiskalten Lächeln hat mich der arktische Winter willkommen geheißen, fast sind mir bei minus 23 Grad die Begrüßungsworte erfroren. Doch nur wenig später macht das schwarzblaue Morgenlicht den ersten wärmenden Sonnenstrahlen Platz, und die Wald- und Seenlandschaft tritt als strahlende Winterschönheit aus der Nacht heraus. Das finnische Lappland ist ein Land der langen Schatten, hoch wird die Sonne heute nicht steigen, vielleicht gerade mal über die eisverkrusteten Tannen des Levi-Fjells, wo sie oben am Berghang das versteckte Ferienhaus der Häkkinens entdecken wird. Mika Häkkinen, zweifacher Formel 1 Weltmeister, ehemaliger DTM-Pilot bei AMG Mercedes und so etwas wie ein finnischer Nationalheld, erwartet mich bereits an der Haustür. Sein Lächeln zeigt sich warmherzig und offen, aber es hat auch diesen leicht prüfenden, freundlich-ironischen Zug, hinter dem man irgendein tiefes, geheimnisvolles Wissen vermutet. Genau deshalb bin ich hier, denn Mika hat mir versprochen, mich für ein paar kurze Tage und lange Nächte auf eine sehr spezielle, sehr private Expedition mitzunehmen: eine Entdeckungsreise in das Mysterium seiner finnischen Seele.

Mikas Mercedes-Benz GL macht den Eindruck, als scheine er sich jeden Moment mit der Tatkraft seines drehmomentstarken Turbodiesels ins Abenteuer stürzen zu wollen. Permanent allradgetrieben, beruhigend geländegängig und gleichzeitig äußerst komfortabel ausgestattet, steht das perfekte Expeditionsfahrzeug vor mir. Ich will los, am liebsten sofort, aber oben am riesigen Esstisch erwarten mich Mikas Frau, Kinder und Freunde mit einem original finnischen Buffet. Sie alle verbringen in ihrem heiß geliebten Lappland ein paar entspannende Winterferientage, und sie freuen sich, mich daran teilhaben zu lassen.

Wer immer vor ein, zwei Generationen so vorausschauend war, einen Stapel massiver Weißtannen zu fällen und sie dann ein paar Jahrzehnte lang zum Trocknen zu legen, wäre stolz zu sehen, was aus ihnen geworden ist. Durchgehärtet und blank poliert sind sie zurückgekehrt in die arktischen Wälder, fügen sich mit grob behauenem, moosgrünem Granit zu einem modern interpretierten, doch unverwechselbar finnischen Ferienhaus. Das luxuriöse Drinnen verbindet sich harmonisch mit dem urwüchsigen Draußen, kein Wunder, dass ich mich vor dem flackernden Kamin des kathedralengroßen Wohnzimmers wie in der grenzenlosen Wildnis Lapplands fühle: Seltsam klein und doch beschützt.

Mika reicht mir einen Teller, er hat, wie er sagt, eine Kleinigkeit vorbereiten lassen. Wildlachsseiten, roh, gedünstet, geräuchert, gebeizt und mit Kräutern mariniert, zu Pasteten verarbeitet oder auf offenem Feuer gegrillt, süß und sauer eingelegte Heringe, Forellenfilets und Flusskrebse, Kaviarhäppchen, karelische Piroggen, geräucherter Rentierschinken, Rentierpastete und Rentierfleisch-Klößchen, gebackener Süßmilchkäse mit Moltebeerensoße - an der Last der heimischen Delikatessen hat der gemeinsame Esstisch schwer zu tragen. Ich greife zu, noch mal und noch mal, probiere immer neue Leckereien, sie alle schmecken nach glasklaren Seen, sattgrünen Wäldern und der nicht enden wollenden Sonne der Mittsommernacht. Wenn die Liebe zu Finnland durch den Magen geht, dann bin ich gerade dabei, mich rettungslos zu verlieben.

Ein Finne, so hat Berthold Brecht einmal in Anspielung auf die regionalen Sprachunterschiede in Finnland gesagt, schweigt in zwei Sprachen. Mika Häkkinen schweigt außerdem in fließendem Englisch. Schon bald haben wir die Grenze zur Einsamkeit überquert, es gibt keine Orte mehr, keine Straßennamen, keine Hinweisschilder, nur die Gefahr, im endlosen Schnee des Polarkreises die Orientierung zur verlieren. Doch Mika kennt sich aus, mit der sanften Unterstützung von Luftfederung und Offroad-Pro-Technik dirigiert er den GL zügig durch die unendlichen Wälder. Entspannt lehne ich mich ins beheizte Leder zurück, mein Blick wandert nach draußen. Keine Menschenseele ist zu sehen, und ich bezweifle, dass es in der Sprache der Suomi überhaupt ein Wort für Gegenverkehr gibt.

Ich spüre, wie sehr Mika die Ruhe, die Weite und die Einsamkeit dieses Landes liebt, und in diesem Moment wird mir klar, dass seine Schweigsamkeit nichts weiter ist als ein ganz persönlicher Ausdruck stillen, intensiven Genießens.

Unvermittelt rückt die unbesiedelte Natur einen schmalen Waldweg in mein Blickfeld. Spielerisch bewegt Mika das Lenkrad, der GL antwortet mit einem leichtfüßigen Schlenker, und schon fräsen wir uns in eine neue Richtung, entlang einer kaum erkennbaren, tief verschneiten Fahrspur. Wo sie endet, erwartet uns ohrenbetäubendes Gebell.

Die unbändige Kraft eines Rudels wild gewordener Huskies zerrt am Hundeschlitten, endlich wirft Mika die Halteleine los. Für einen flüchtigen Moment sehe ich in ihm den einsamen Wolf, dann ist Mika mit der tobenden Meute im dichten Winterwald verschwunden, den schnellen Schlitten nur mit der Verlagerung seines Körpergewichts dirigierend. Über viele Kilometer folgt das wilde Gespann einem tief verschneiten Waldweg, später knirscht ein zugefrorener Bachlauf unter den Kufen. Wenn es gefährlich schnell wird für den Schlitten, krallen sich per Fußbremse ein paar solide Metallzacken ins Eis, geht es bergauf, springt Mika vom Schlitten und hilft dem Rudel bei der Arbeit. Dieses Wechselspiel von Respekt und Verantwortung, das zwischen dem Schlittenführer und den sensiblen Huskies so selbstverständlich praktiziert wird, lässt ein neues Bild in mir aufsteigen, ich sehe jetzt den anderen Mika, den engagierten Teamplayer, der mit seinen Renn-Ingenieuren und Mechanikern eine verschworene Gemeinschaft bildete. Ein Widerspruch zum einsamen Wolf? Nicht, wenn man stolzer Besitzer einer finnischen Seele ist.

Im nächtlichen Winterwunderland hat es Neuschnee gegeben, doch kaum wird es hell, haben sich die Schneewolken bereits wieder verzogen. Perfekte Bedingungen für einen Ritt auf dem Motorschlitten, lacht Mika, während er den Anhänger mit den beiden Skidoos an seinen GL koppelt. Die 700 NM Drehmoment haben leichtes Spiel mit der schweren Last, die Zivilisation Levis ist schnell hinter uns gelassen, doch vierzig Kilometer und ungezählte Forstwege später scheint unsere Expedition ein abruptes Ende zu finden. Vor uns verliert sich die Spur des schneeverwehten Waldwegs, dahinter beginnt die Unendlichkeit eines riesigen, zugefrorenen Sees. Wollen wir uns wirklich auf das grenzenlose Weiß wagen? Das permanente Allradsystem antwortet mit Ja, eine kurze Schalterdrehung setzt den Federweg der Luftfederung höher, und Sekundenbruchteile später stürmt der GL mit wehenden Schneefahnen einer versteckten Bucht entgegen.

Wenn jemand die absolute, menschenleere Einsamkeit sucht, hier findet er den idealen Platz. Auch Mika kommt regelmäßig hierher, wenn er mit sich und der Welt allein sein will, den Eisbohrer und die kurze Angel stets im Gepäck. Doch das Eisangeln hat er sich für später aufgehoben, jetzt werden erst die starken Motoren der Skidoos zum Leben erweckt.

Kaum sind die Zweitakter warm gelaufen, hat Mika seinen berühmten blau-weißen Integralhelm aufgesetzt und den kleinen, unscheinbaren Gashebel nach vorne gedrückt. Aus dem Stand katapultiert sich sein Motorschlitten auf den weiten, weißen See hinaus, die Beschleunigung ist atemberaubend. Meterhoch stiebt das pudrige Weiß in die eiskalte Luft, um sich schließlich als Vorhang aus Schneekristallen vor meinen Augen herabzusenken. Als die Sicht wieder frei wird, kurvt Mika bereits in artistischer Schräglage dem Horizont entgegen, gebannt verfolge ich das faszinierende Schauspiel, das sein Motorschlitten auf der unberührten Bühne des Neuschnees inszeniert. Schließlich setze auch ich meinen Helm auf, lasse den Motor aufheulen und verliere mich genau wie Mika irgendwo da draußen im grenzenlosen Weiß.

Als wir am frühen Nachmittag müde, aber glücklich zu unserem geländegängigen Basislager zurückkehren, duftet die eiskalte Luft nach harzigem Rauch. Mika holt ein paar Rentierfelle aus dem Laderaum des GL, zieht seine Fellmütze tief über beide Ohren und stapft durch den knietiefen Schnee Richtung Wald. Ich folge seiner Spur, höre finnisch-fröhliche Begrüßungen und mehrstimmiges Lachen, eine schneebedeckte Jurte taucht auf, vor ihr kühlt leise knackend eine Horde Motorschlitten ab, nur wenige Meter davon entfernt haben Mikas Freunde ein wärmendes Feuer entfacht. Hungrige Flammen recken sich hoch zu den frischen, eisgefischten Fischen, die soeben selbst geangelt und nun an geschnitzten Stecken übers Lagerfeuer gehalten, die wabernde Hitze gierig in sich einsaugen. Wir lassen uns auf die mitgebrachten Rentierfelle fallen, Mika reicht mir einen langen, dünnen Ast und seinen Finndolch, wenig später brutzelt auch mein arktischer Schnellimbiss über der heißen Glut.

Seltsam, je tiefer ich in die finnische Seele einzudringen versuche, desto unergründlicher zeigt sie sich mir. Aber vielleicht muss sie genau das sein, unergründlich und endlos weit, wie sonst könnten in ihr die unzähligen Widersprüche Finnlands so wunderbar leicht nebeneinander existieren: Die eisige, nicht enden wollende Polarnacht neben dem Naturspektakel einer Mitternachtssonne, der von Naturgeistern beseelte Schamane neben dem kosmopolitischen Hightech-Unternehmer, die sprichwörtliche Schweigsamkeit der Finnen neben der höchsten Mobilfunkdichte der Welt.

Unbemerkt hat sich Ruhe über die Zeit gelegt, irgendwo in der borealen Ferne zucken ein paar Nordlichter auf. Mika und seine Freunde nippen am Kaffee, schauen in die Glut, so, als würden sie darin etwas sehen, das nur sie sehen können. Die wenigen Worte, die jetzt noch am Lagerfeuer fallen, versinken still im weichen Schnee.

Wilder Osten.

Reportage über zwei innovative Hotelprojekte in der Lausitz. Kunde: Transgourmet Magazin.

Reportage über zwei innovative Hotelprojekte in der Lausitz. Kunde: Transgourmet Magazin.

Der rot-weiß gestreifte Leuchtturm mit den Koordinaten 51° 29'30" Nord / 14°06'59" Ost ist auf keiner Seekarte eingezeichnet, und auch an Nord- und Ostseeküste sucht man ihn vergeblich. Stattdessen findet man das maritime Wahrzeichen in jedem guten Hotelführer, wo es Erholung suchenden Reisenden mit vier leuchtenden Sternen den Weg in die Lausitz weist.

Die Lausitz? Im Westen nahezu unbekannt, hat sich der ehemalige Braunkohle-Tagebau im Osten einen zweifelhaften Ruf als hoffnungslos zerstörte Landschaftsruine erworben. Mitte des letzten Jahrhunderts rissen mächtige Abraumbagger riesige Wunden in Feld, Wald und Wiese, Dutzende Dörfer wurden entsiedelt und abgetragen. Nach und nach verwandelte sich die gewachsene Region in eine Mondlandschaft gewaltigen Ausmaßes, bis nach Jahrzehnten des Raubbaus auch die Brikettfabriken, Kohleumschlagplätze und Kraftwerke sterben mussten. Und mit ihnen die Arbeitsplätze. Ganze Familien verließen in Scharen die Region, die Lausitz blutete aus.

Der 1. Hauptsatz der Thermodynamik sagt, dass Energie nur umgewandelt, aber nicht vernichtet werden kann. Vor allem mit Beginn der Wende floss eine neue, völlig andere Energie zurück in die Lausitz. Eine, die der Landschaft ihre Schätze nicht nehmen, sondern zurückgeben will.

Nach Jahrzehnten der Rekultivierung entsteht zwischen Berlin und Dresden durch die Flutung früherer Tagebaue eine spektakuläre Wasserwelt, in der über zwanzig künstlichen Seen zu einer der größten Wasserlandschaften Europas zusammenwachsen. Noch ist es eine Landschaft der Kontraste: Auf der einen Seite idyllische Seen, die schon vor Jahrzehnten rekultiviert wurden, in direkter Nachbarschaft Gruben, die gerade erst geflutet werden. Doch mutige Ideen und eine milliardenschwere staatliche Finanzspritze zeigen bereits beachtliche Erfolge.

Nur etwas ganz Wesentliches fehlt. Die Region braucht dringend Investoren, Menschen mit Engagement und Pioniergeist.

Im Sommer 2006 sitzt Heike Struthoff am Ufer des schon fast vollständig gefluteten Geierswalder Sees und beobachtet die ersten Erholungssuchenden, die zu Fuß, mit dem Boot oder auf

dem Rad die Gegend erkunden. Ein Wassersportverein hat sich gegründet, ein Rundweg für Spaziergänger und Radfahrer ist angelegt, aber ansonsten befindet man sich am Geierswalder See in einem kulinarischen Ödland. Was hier fehlt, ist eine gute Gastronomie, denkt sich die begeisterte Sportseglerin, vielleicht sogar ein kleines Hotel mit einem gemütlichen Restaurant und einer Seeterrasse.

Man muss wissen, Heike Struthoff und ihr Mann haben lange in der Gastronomie gearbeitet. Das war damals in Berlin, bevor das Paar die Tankstelle ihres Vaters in Hoyerswerda übernommen hat. Und obwohl zwischenzeitlich ein eigenes Autohaus entstanden ist, hat die Leidenschaft für die Gastronomie die beiden nie losgelassen.

Von nun an steht Heike Struthoff Jahr für Jahr beim Bürgermeister, fragt nach Grundstücken, erkundigt sich nach dem aktuellen Stand des Baurechts und wirbt unermüdlich für ihr Herzensprojekt. Abends im Wohnzimmer wird diskutiert, gedacht und gezeichnet, bis die ersten Entwürfe immer konkretere Formen annehmen.

Ungewöhnliche Ideen fließen ein, werden überprüft, übernommen oder verworfen. Nur eine Vorgabe ist von Anfang an gesetzt: Eines dieser banalen, rechteckigen Hotelkästen darf es auf keinen Fall werden, das würde die ambitionierte Wassersportlerin nicht zulassen. Wenn wir diese Vision umsetzen, erklärt sie ihrem Mann, dann muss es etwas Besonderes, Einmaliges sein. Und plötzlich ist sie da, die verrückte Idee. Heike Struthoff hat ein Symbol vor Augen, das später zum Wahrzeichen für die Energie und den Ideenreichtum einer ganzen Region werden wird: ein Leuchtturm.

Es genügt nicht, eine Idee zu haben. Man muss sie auch umsetzen können.

Auch wenn der Bürgermeister das extravagante Projekt von Anfang an unterstützt, der weite Weg zu seiner Realisation ist voller Hindernisse. Ein jahrelanger Hürdenlauf beginnt. Die Bank will überzeugt sein, ständig ändern sich die Bebauungspläne, es muss nachfinanziert werden, und der Verkauf des Ufergrundstücks durch die Sanierungsgesellschaft LMBV zieht sich ebenfalls endlos hin.

Man kann die Jahre auch so zusammenfassen: Wenn die zukünftige Hotel-Besitzerin nicht über eine so unerschöpfliche, strahlende Energie und zugleich charmante Überzeugungskraft verfügen würde, dann könnte heute kein Gast den 360-Grad-Blick über die fast endlose Seenlandschaft vom rot-weißen Leuchtturm genießen.

Ihre Beharrlichkeit zahlt sich aus. Gemeinsam mit Architekt Mike Meder kann Heike Struthoff ihren verrückten Traum vom Leuchtturmhotel in die Realität umsetzen. Insgesamt 26 Zimmer, fünf Ferienwohnungen und ein Ferienhaus sollen es werden, dazu ein Restaurant mit Außenterrasse und ein hauseigener Bootsanleger, der wassersportbegeisterten Gästen den Landgang ermöglicht. Doch eine Frage bleibt offen: Wie nutzt man einen Leuchtturm, der keinem Ozeanriesen, sondern erlebnishungrigen Touristen den Weg in die Lausitz weisen soll?

Wieder reifen Ideen, wieder werden Ideen verworfen. Schließlich fällt die Entscheidung: In 22 Meter Höhe über dem Wasserspiegel wird der Leuchtturm ein Turmzimmer erhalten, verteilt auf drei Etagen und mit einem spektakulären Ausblick vom Rundum-Balkon.

Seit Beginn der Seefahrt dient ein Leuchtturm nicht nur zur Positionsbestimmung, er weist den Weg zurück in die Heimat. Symbolisch gilt das auch für das rot-weiß gestreifte Wahrzeichen am Ufer des Geierswalder Sees. Junge Menschen, ja ganze Familien kehren von weit her zurück zu ihren Wurzeln. Gab es früher in der Region kaum noch Beschäftigung für sie, wird ihre Arbeitskraft mittlerweile dringend gebraucht.

Unter den Rückkehrern ist auch Küchenchef Daniel Paula. Ohne zu zögern ergreift er die Chance, die Leitung des geplanten Restaurants zu übernehmen. Drei Monate vor der offiziellen Eröffnung tritt Daniel seine neue Arbeitsstelle an. Ein Glücksfall für die Hoteliers: Der neue Küchenchef hat bereits zweimal eine Restaurant-Neueröffnung begleitet und weiß aus Erfahrung, dass eine Küchenplanung nur in der Theorie reibungslos funktioniert. Als Mann der Praxis packt er an, gibt wertvollen Input. Es hat sich gelohnt. Heute ist der Küchenbereich im Restaurant „MehrSeen“ so perfekt durchorganisiert, dass Daniel Paula mit seinen zehn Mitarbeitern problemlos eine dreimal so große Zahl an Essen zubereiten kann wie ursprünglich geplant.

Heike Struthoff denkt unkonventionell, sie liebt und lebt die Vielfalt. So hat sie mit „MehrSeen“ auch kein reines Spezialitätenrestaurant für Fisch und Seafood konzipiert. Gekonnt verbindet die maritim inspirierte Speisekarte in ihrem umfangreichen Angebot Regionalität und Internationalität. Eine kulinarische Vielfalt, die lückenlos aus der Fülle der Transgourmet Produktpalette schöpfen kann.

Dass damit nicht nur bei den Gästen des gut besuchten Restaurants keine Wünsche offenbleiben, zeigt sich auch beim Buchungsstand von Übernachtungen, Festen und Feiern. Die gesamte Hotelanlage ist mittlerweile so beliebt, dass heiratswillige Pärchen bis 2017 warten müssen, um im LeuchtTurm den Eintritt in den Bund der Ehe zu feiern.

Vom Leuchtturmobjekt zum Leuchtturmprojekt: Die Lausitz bekommt eine neue Zukunft, eine neue Lebensqualität. Was vor vielen Jahren als verrückte Idee einer tatkräftigen Visionärin begann, ist heute zu einem Leuchtturmprojekt für die ganze Region geworden.

Wer einen weiteren Beweis für den Pioniergeist des Seenlandes sucht, dem empfiehlt sich der Besuch eines ungewöhnlichen Lausitzer Wahrzeichens, das nur wenige Kilometer entfernt eine nahezu magische Anziehungskraft auf Regenerations-bedürftige Körper und Seelen ausstrahlt: dem Ayurveda-Turm des Seeschlösschens. Hier, am Ufer des Senftenberger Sees, beginnt eine andere, ebenso inspirierende Geschichte. Auch sie erzählt von einem Pionier. Seine Name: Maik Zander.

In der Nähe von Senftenberg aufgewachsen, legt ihm sein Vater das Zeichnen bereits in die Wiege. Und Maik Zander den Zeichenstift nie wieder aus Hand. Nach seinem Ingenieurstudium wird er als jüngster Hochschullehrer an die Ingenieurschule in Senftenberg gerufen. Während er den Studenten die Programmierung von CNC-Maschinen beibringt, lässt Maik Zander seiner Leidenschaft, dem technischen Zeichnen freien Lauf.

Ein Pionier ist ein Visionär. Er sieht nicht nur eine Zukunft, die noch kein anderer sieht. Er will sie auch gestalten. Schon als Kind hat Maik Zander ganze Häuser entworfen und technische Bauzeichnungen angefertigt. Endlich, mit der Wende, entstehen aus realistischen Entwürfen reale Gebäude. Darunter ein Haus, das ein Café, ein Restaurant und eine Bäckerei beherbergt. Dort lernt er seine Frau kennen, die das Geschäft führt, und steigt an ihrer Seite selbst in die Gastronomie ein.

Dieser Moment wird zum Startschuss für die gastronomische Karriere des den Senftenberger Pioniers. Zunächst verwirklicht Maik Zander seinen Traum von einem eigenen Strandrestaurant, bevor er nur wenige Jahre später den Bau der „Lausitztherme“ in Angriff nimmt, einem Hotel mit 16 Zimmern und einer angeschlossenen Saunalandschaft, nur einen Steinwurf vom Wasser entfernt.

Was im Rückblick wie mit leichter Hand realisiert aussieht, besteht in Wirklichkeit aus pausenlosem persönlichen Einsatz. Erholung findet nur für Maik Zanders Gäste statt. Er fungiert zugleich als Projektmanager, Bauleiter und Geschäftsführer, kümmert sich um die Aufgüsse in der Sauna und rennt nebenher ans Telefon, um Buchungen für Therme und Hotel entgegenzunehmen. Und Maik Zander muss sehr viel rennen, denn der Strom der Gäste reißt nicht ab.

Vom wachsenden Erfolg bestätigt, wagt Maik Zander den mutigen Schritt zum Wellnesshotel. Wieder kommt der geliebte Zeichenstift zum Einsatz, wieder heißt der Projektentwerfer Maik Zander. Bereits zwei Jahre später wird das neu gestaltete Wellnesshotel „Seeschlösschen“ eröffnet. Man kann sich leicht vorstellen, welcher Belastung ein Hotelier ausgesetzt ist, der Umbau und Erweiterung seines Hauses im laufenden Betrieb durchführt und gleichzeitig als Projekt- und Bauleiter fungiert. Die Doppelbelastung fordert ihren Tribut, Maik Zander fühlt sich ausgebrannt.

Dass im neuen Wellness-Resort ein Masseur mit Erfahrung in indischer Heilkunst arbeitet, ist ein glücklicher Zufall. Der Therapeut beherrscht nicht nur die klassischen Massagetechniken, er integriert zusätzlich ayurvedische Elemente in seine Behandlung. Maik Zander empfindet diese Anwendungen als äußerst wohltuend, und auch unter seinen Gästen registriert das Seeschlösschen eine beständig wachsende Nachfrage.

Jeder Weg braucht einen Wegbereiter. Wer als Pionier vorangeht, verfügt über zwei elementare Eigenschaften: Den Mut, einen bislang unbekannten Weg mit all seinen Risiken einzuschlagen, sowie die ständig wachsende Erfahrung, die ihn jeder neue Schritt unablässig lehrt.

Maik Zanders Interesse an Ayurveda wächst behutsam, aber unaufhaltsam. Er reist zur Kur nach Österreich, lässt sich dort ayurvedisch behandeln, lernt die ayurvedische Küche kennen und fühlt sich im Anschluss wie neugeboren. Am letzten Tag der Kur steht sein Entschluss fest. Er will die indische Heilkunst in das Wellnesskonzept des Seeschlösschens integrieren. Selbst wenn es die Neugestaltung der gesamten Anlage erfordert und sogar die Sterne-Ambitionen der hoteleigenen Gourmetküche infrage stellt, auf die Maik Zander ganz besonders stolz ist.

Pioniergeist heißt Schritte zu wagen, die andere nicht wagen würden. Wieder greift der visionäre Inhaber des Seeschlösschens zum Stift. Wie schon bei der Planung des Haupthauses entwirft Maik Zander den millionenschweren Umbau in Eigenregie: vom Zeichnen der baulichen Entwürfe über die Bauorganisation bis hin zur innenarchitektonischen Gestaltung liegt das gesamte Projekt in seiner Hand.

Mit dem Ende der Bauarbeiten zeigt sich, wie logisch und konsequent der Bauherr das innovative Konzept in sein 4-Sterne-Superior-Hotels integriert hat. Ein weithin sichtbares Zeichen ist der neue Ayurveda-Turm, der auf vier Ebenen ein speziell für ayurvedische Behandlungen ausgelegtes Therapiezentrum beherbergt. In seiner einladend warmen Atmosphäre findet auch der in Indien ausgebildete Ayurveda-Arzt Vaidya Kumaran Rajsekhar genügend Ruhe und Raum für seine Praxis.

Auch wenn sich der Maik Zander mit der Integration des Ayurveda-Konzepts von der Idee eines Michelin-Sterns verabschiedet hat, ein Feinschmecker-Restaurant sollte sein „Sandak“ trotzdem bleiben. Das war anfangs keine leichte Aufgabe für den neuen Küchenchef, der aus der klassischen französischen Küche kommt. Mittlerweile beherrscht Mike Schulze diesen kulinarischen Spagat ganz hervorragend. Im stilvoll eingerichteten Hotelrestaurant serviert der Küchenchef heute nicht nur aufwendig zubereitete klassische französische Gerichte, sondern überrascht auch Abwechslung suchende Feinschmecker mit gehobener, ayurvedisch inspirierter veganer Küche.

Auf Gäste, die zu einer Ayurveda-Kur ins Seeschlösschen gekommen sind, wartet ein separates, nahezu privates Restaurant mit eigener, rein ayurvedischer Küche. Hier wird jede Speise individuell auf die jeweilige Behandlung abgestimmt und konsequent nach ayurvedischen Prinzipien zubereitet, natürlich ebenfalls tagesfrisch und bevorzugt aus regionalen Bio-Produkten.

Die harte Arbeit hat sich gelohnt, das Konzept hat Erfolg.

Auch wenn Maik Zander mit Abschluss der Bauarbeiten seinen Zeichenstift aus der Hand gelegt hat, er lässt ihn vorsichtshalber in Reichweite liegen. Wer weiß, was der umtriebige Unternehmer in Zukunft noch alles planen, zeichnen und bauen wird. Heute darf er sich aber erst einmal zurücklehnen und stolz sein auf das, was er am Senftenberger See geschaffen hat: ein außergewöhnliches Seeschlösschen mit einem märchenhaften Turm, den er mit mutigen Visionen und unerschöpflicher Energie zu einem weiteren Leuchtturmprojekt für die ganze Region gemacht hat.

Trifft man auf Menschen wie Heike Struthoff oder Maik Zander begreift man schnell, was sie verbindet: echter Pioniergeist. Mit unermüdlicher Tatkraft, mit Mut zum Risiko und ungewöhnlichen Ideen, die manchmal auch etwas verrückt erscheinen, treiben sie Projekte voran, die nicht nur eine ganze Region beleben können. Sondern beweisen, dass auch im wilden Osten die Zukunft eine Zukunft hat.

Tausend Meilen Leidenschaft.

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Mit Rennfahrerlegende Hans Herrmann auf den Spuren des Mythos Mille Miglia. Advertorial. Kunde: Mercedes-Benz.

Kaum baut sich die imposante Kulisse des Passo della Futa vor der Panaroma-Windschutzscheibe auf, ist der Fahrer des 300 SL nicht mehr zu halten. Und obwohl Stoffverdeck und Seitenscheiben Roadster-typisch tief versenkt sind, bleibt dem Co-Piloten, wie so oft in den vergangenen Stunden die Luft weg.

Die schmale Passstrasse wird steiler, eine haarsträubende Spitzkehre fliegt viel zu schnell heran, und in den Bruchteilen der Sekunde, die der Pilot des racing-grünen Lagonda V12 zu früh auf die Bremse steigt, wechselt der agile SL blitzschnell auf die Gegenspur. Der Reihensechszylinder faucht angriffslustig los, das wird knapp, denke ich, sehr knapp sogar. Doch dann packen die Bremsen überraschend energisch zu, und exakt im Scheitelpunkt der tückisch engen Kurve schiebt sich der sportliche Roadster in sanftem Drift vor den wuchtigen Kühler des Lagonda. "No guat, dass 'd midbremmst hosch, sonsch hädda mer's ned gschaffd", zwinkert Hans Herrmann mir zu, als er bemerkt, dass ich beide Beine zitternd ins Bodenblech presse. Und während er mit sensiblem Gasfuß das unruhig gewordene Heck des SL wieder stabilisiert, blitzt in den Augen des Achtzigjährigen für einen ganz kurzen Moment etwas Lausbübisches auf.

Auch Peter Pfeiffer und Gorden Wagener demonstrieren, dass sie ihre Lektionen in Querdynamik gelernt haben. Der Fahrstil der beiden Designer zeigt sich zunehmend kompetitiver, und angefeuert von den Forza! Forza!-Rufen der lokalen Polizeistaffeln stürmen die von Adrenalin und Glückshormonen durchfluteten SL-Piloten auf der kurvenreichen Provinzstraße in Richtung Bologna, als wären die Borduhren soeben um 51 Jahre zurückgestellt worden.

Zwei Tage zuvor, es ist Donnerstag, später Vormittag. In den Stunden der technischen Abnahme erscheint ein Bummel durch das pittoreske Zentrum von Brescia wie ein Spaziergang durch verloren geglaubte Erinnerungen, Bilder, Filme. "Die Müßiggänger" und "La Dolce Vita" kommen einem in den Sinn, und man braucht nicht viel Fantasie, um Frederico Fellini und Sophia Loren in ihrem kompressorbetriebenen Achtzylinder durch die Viale Venezia rollen zu sehen.

Auch der elegante Klassiker, der sich in diesem Moment in das historisch verklärte Italienbild schiebt, scheint mit einer Zeitmaschine direkt aus dem deutschen Wirtschaftswunder gekommen zu sein. Der blaue Mercedes-Benz 300 SL stammt aus dem Jahr 1961, als Roadster ist er ein legitimer Nachfahre des ersten Sportwagen-Prototyps aus Stuttgart, der die Bezeichnung SL trug.

SL. Man muss nur diese beiden Buchstaben nennen, dann schwingen in den Köpfen der Menschen die Flügeltüren nach oben, formt sich über einem filigranen Gitterrohrrahmen das silbermetallische Bild einer Ikone, die zum Inbegriff des reisetauglichen Sportwagens wurde. In zwei, drei Jahren wird es diese Flügeltüren wieder geben, völlig neu interpretiert, und der Mann, der dafür verantwortlich ist, schält sich gerade aus dem ebenso klassischen wie aufregenden Anzug aus Lack, Chrom und Leder, in den ihn der elegante Roadster gekleidet hat.

Braungebrannt, groß, muskulös, breites Grinsen, sportlicher Haarschnitt - wüsste man nicht, dass es sich bei dem jugendlich wirkenden Hünen um den Leiter des Bereichs Strategic Advanced Design bei Mercedes-Benz und Nachfolger von Prof. Peter Pfeiffer als Chefdesigner der Daimler AG handelt, man würde unweigerlich das Klischee eines kalifornischen Surfers bemühen. So lässt man es lieber bleiben, erfährt aber später, dass Gorden Wagener nicht nur ein leidenschaftlicher Surfer ist, sondern auch jahrelang in Kalifornien gelebt hat. So viel zu Klischees.

Auch ein entspannter Peter Pfeiffer ist mittlerweile eingetroffen, er lässt den silbergrauen SL 500 aus der aktuellen Baureihe neben seinem historischen Vorbild ausrollen. Obwohl nun einträchtig nebeneinanderstehend, ist es erstaunlich, wie diese emotionsgeladene SL-Paarung augenblicklich das gestalterische Spannungsfeld von Tradition und Moderne deutlich macht, in dem sich ein Traditionshersteller wie Mercedes-Benz bewegt. "SL trifft SL, Legende trifft Mythos, genau deswegen sind wir hier", erklärt Peter Pfeiffer. Einen spannenderen und emotionaleren Rahmen als das Renn- und Sportwagen-begeisterte Umfeld der Mille Miglia könnte man sich dafür kaum wünschen.

Es gibt Jahre, die kann man nicht zurückholen: Werden sie nicht gelebt, sind sie für immer verloren. Rennfahrerjahre sind solche Jahre. Man lebt sie, wenn man jung mit der Rennerei anfängt und damit aufhört, bevor einem der Tod die Chance nimmt, alt zu werden. Hans Herrmann hat jung angefangen, und er hat rechtzeitig aufgehört: An dem Tag, als er die 24 Stunden von Le Mans gewonnen hat; ein großer Traum, der da in Erfüllung ging, selbst für einen erfolgsverwöhnten Weltklassefahrer wie ihn.

Hans Herrmann also wird den dritten Roadster steuern, im steten Fahrer- und Fahrzeugwechsel wird sich der schnelle Schwabe auf eine Reise in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einer Ikone begeben, die auf den klangvollen Namen SL hört.

Der Start der drei passionierten Mercedes-Fahrer verzögert sich leicht, oben auf der Bühne laufen noch die Kameras. Gerade hat man Hans Herrmann gebeten, eine der unvergessenen Anekdoten zu erzählen, von denen der Mythos der Mille Miglia noch heute zehrt. Zum Beispiel die, wie er sich mit seinem flachen Renner mit Vollgas unter der sich schließenden Bahnschranke hindurch quetschte, die drohende Kollision mit dem heranbrausenden Rom-Mailand-Express nur um Haaresbreite vermeidend. Auf der Mille Miglia von 1954 war das passiert, und der Lohn der Angst: sein erster Klassensieg.

Pünktlich um 19.30 Uhr beginnt das Konzert. Oben auf der Startrampe ertönt die erste Auspuff-Fanfare, dann fangen im Minutenabstand 375 feinmechanische Präzisionsinstrumente an zu fauchen, pfeifen, trompeten, rasseln und bollern, und begleitet von den stehenden Ovationen des begeisterten Publikums am Streckenrand startet das große Mille-Miglia-Orchester zu seiner 1000 Meilen langen Tournee in die italienische Nacht.

Fortissimo! Aus achtzylindriger Kehle röhrend betritt ein silberfarbener Mercedes-Benz 300 SLR die norditalienische Bühne, nimmt die Begeisterungsstürme seiner riesigen Fangemeinde, die seinen noch heute gültigen Streckenrekord von 1955 nie vergessen hat, huldvoll entgegen, um sich dann mit infernalischem Gebrüll auf Desenzano del Garda zu stürzen, an dessen malerischer Hafenpromenade die erste Sonderprüfung auf ihn wartet. Am Steuer Ex-Formel-1-Pilot Mika Häkkinen, wir werden ihn erst morgen im römischen Nachtlager wiedersehen.

Auch die drei SL sind jetzt unterwegs, es geht entspannt zu in den Cockpits. Ferrara, das erste Etappenziel, ist nur knappe 180 Kilometer auf den schnellen Landstraßen entfernt, die wie mit einem Lineal gezogen die fruchtbare Ebene der Emilia-Romagna durchschneiden. Es ist noch keine 22 Uhr, da sitzen wir bereits vor einem Teller hausgemachter Linguine con ragù di pesce. In den Gläsern funkelt ein herrlich frischer Sauvignon Blanc aus Südtirol, eine Empfehlung des Patrons, während draußen vor der eleganten Terrasse des Ristorante Max drei SL auf die ersten Haltungsnoten warten.

Prüfend wechseln die Blicke zwischen dem modernen SL und seinem historischen Vorbild, analysieren, vergleichen, bewerten. Der 300 SL, da sind sich alle einig, zeigt in seiner Formensprache etwas, was den meisten Automobilen dieser Epoche auf ihrem Weg in die Gegenwart verloren ging: eine den Zeitgeist überdauernde, klassische Schönheit. Daneben der neue SL, auch bei ihm greifen Bezeichnungen wie modisch und zeitgeistig nicht. Aufregend, aber unaufgeregt transportiert er Dynamik und Präsenz, in seinen glatten Flächen und überspannten Linien lässt sich bereits die Mercedes-typische Langlebigkeit erahnen. Beide SL beweisen, dass die Mercedes-Designer nie einem kurzfristigen Trend gefolgt sind, weder heute noch vor fünfzig Jahren. Ihre Arbeit scheint unabhängig von der Eitelkeit des Zeitgeistes zu sein, und genau deshalb droht sie auch nicht im Strudel immer neuer gestalterischer Belanglosigkeiten zu versinken.

Am Morgen des folgenden Tages finden wir die drei offenen SL inmitten eines rasenden Automobil-Museums wieder, das noch heute Nacht Rom erobern will. Die pittoreske Altstadt von San Marino verschwindet bereits wieder in den tief hängenden Wolken, und nur die Erinnerung an das Privileg, über eigens für sie ausgerollte Teppiche in das steile, sonst nur für Fußgänger reservierte Gassengewirr eintauchen zu dürfen, begleitet die Teams auf ihrem Weg nach Assisi.

Gorden Wagener, der jüngste des schnellen Trios, fährt eindeutig am Lustbetontesten, ständig lacht, redet, schaltet oder gestikuliert er, unablässig tanzen seine Füße über die Pedale. Auch das Drehzahlniveau des sportlichen Triebwerks liegt signifikant höher als bei seinen Fahrerkollegen, und ganz besonders hoch klettert es in dem Moment, als die engen Schluchten des Passo del Furlo den SL verschlucken und die raue, melodiöse Vielstimmigkeit seines Sechszylinders vielfach verstärkt in den offenen Roadster zurückwerfen.

Offen, das ist ein Wort, das nicht nur den blauen Roadster, sondern auch seinen Fahrer kennzeichnet. Gorden Wagener ist in Essen, also auf Kohle geboren, wie man im Ruhrgebiet sagt, und das darf man durchaus als Kompliment verstehen. Man gilt dann im besten Wortsinn als Kumpel: Offen, ehrlich, direkt und zupackend. Das muss man wissen, wenn man seinen Lebensweg beschreiben will.

Eigentlich wollte er Profisurfer werden, da war der fanatische Windsurfer gerade mal achtzehn Jahre alt. Die ersten Surfboards hatte er auch schon designed; seine andere Leidenschaft, die Malerei, hatte ihn dazu inspiriert. Dann stand auf einmal ein gebrauchter Mercedes vor der Tür, ein Geschenk seines Vaters, der sich einen neuen kaufen wollte.

Vielleicht hatte es mit der frisch erworbenen automobilen Freiheit zu tun, vielleicht lag es aber auch einfach daran, dass jeder Mensch früher oder später an einen Punkt kommt, an dem er plötzlich ganz genau weiß, was er wirklich will: Gorden Wagener wollte Autos designen.

Als Peter Pfeiffer das junge Designtalent nach Sindelfingen holt, hat er bereits in Essen Industrial Design studiert, sich am Royal College of Art in London auf Transportation Design spezialisiert und ein zweijähriges Gastspiel als Exterieurdesigner bei einem großen deutschen Automobilhersteller absolviert. Und dann folgt der, wie er sagt, beste Job der Designwelt: "Das muss man sich mal vorstellen, ich kam zu Mercedes, und meine erste Aufgabe war, den neuen SLR zu gestalten!" Gorden Wagener schüttelt lachend den Kopf, so, als könne er es noch immer nicht fassen. "Unglaublich, nach 50 Jahren wieder an einem Flügeltürer arbeiten zu dürfen, einer Ikone, das hätte ich sogar zum Nulltarif gemacht." Diesen Satz glaubt man ihm sofort. Nächtelang experimentiert Gorden Wagener mit Flächen, Formen und Linien, entwirft und verwirft, und es ist genau dieses ewige "Nicht-Zufrieden-Sein", was die Avantgardisten unter den Designern antreibt, diese Konsequenz und Konzentration in ihrer Arbeit, die sie schließlich an den Punkt führt, an dem man sagt: Er ist seiner Zeit voraus.

Sind Designer Seher? Peter Pfeiffer und Gorden Wagener sind es, müssen es sein. Sie ahnen, spüren die Autos von morgen, versuchen daraus eine Formensprache zu formulieren, eine zunächst verwirrende, vielleicht sogar beunruhigend neue Sprache, eine, die der zukünftige Autokäufer erst in einigen Jahren verstehen wird. Wohin also geht die Reise der Ikone SL? "Ich kann ja jetzt nicht alles verraten, aber im Moment bauen wir eine limitierte Sonderserie des SLR, einen Speedster mit zwei kleinen Windabweisern und zwei Höckern hinter den Sitzen, so wie damals beim alten SLR, mit dem Stirling Moss die Mille Miglia gewonnen hat. Und dass wir gerade einen völlig neuen Flügeltürer entwickeln, ist ja auch kein Geheimnis mehr."

Sein Mobiltelefon klingelt wieder, vielleicht ist es ein Anruf vom anderen Ende der Welt, aus Carlsbad, dem neuen Design-Center von Mercedes-Benz, das das zu klein gewordene Studio in Irvine ersetzen wird. Doch Gorden Wagener will sich nicht ablenken lassen, der Ausflug in die Vergangenheit des Sport- und Rennwagenbaus macht ihm viel zu viel Spaß. "Wenn wir unsere Sache gut machen, wird man auf der Mille Miglia des Jahres 2050 der modernen Interpretation unseres SL genauso begeistert zujubeln wie diesem Klassiker hier", sinniert er, "Das wäre wirklich ein Traum." Wer Gorden Wagener kennt, der weiß, diesen Traum wird er sich erfüllen. Vorausgesetzt natürlich, es wird die Mille Miglia in dieser fernen Zukunft noch geben.

Doch noch lebt der Mythos, und er duftet nach Benzin, Rennöl, Gummi und antikem Leder. Die ersten vierzig, fünfzig Teams haben Assisi, den Geburtsort des heiligen Franziskus, erreicht. Umhüllt von einer blassblauen Abgaswolke schiebt sich ein wahrer Triumphzug an automobilen Raritäten an der Basilika San Francesco vorbei, jeder einzelne dieser chromblitzenden Boliden ein automobiler Moses, der auf der scheinbar undurchdringlichen Piazza del Comune das Wunder vollbringt, das endlose Meer von ehrfurchtsvollen Mille Miglia Pilgern zu teilen, bevor die Wogen der Begeisterung direkt hinter ihm wieder zusammenschlagen.

Es gibt ein paar Sonderprüfungen, die sind nicht im offiziellen Roadbook verzeichnet, und für die Feinschmecker unter den Teilnehmern wartet die härteste in Foligno. Um den Zeitplan einzuhalten, müssen Peter Pfeiffer, Gorden Wagener und Hans Herrmann am Bacco Felice, den als Trattoria getarnten Feinschmeckertempel von Salvatore Denaro, vorbeifahren, ohne auch nur einmal von seinem frischen Panzanella, dem mit Kräutern aufgezogenen Pollo alla diavola oder dem wunderbaren Chianina al Sagrantino kosten zu können, zu dem sein Freund Marco Caprai den passenden Montefalco Rosso Riserva liefert. Gut, dann muss man sich eben nach der Zieldurchfahrt in Brescia ein weiteres Mal auf den Weg nach Umbrien machen.

Die Via Flaminia ist eine kapriziöse Weggefährtin, die Fahrt über Urbino, Assisi und Narni ist anstrengend lang, und als die ersten Fahrer spät in der Nacht die große alte Stadt am Tiber erreichen, bleibt gerade noch Zeit für ein kurzes Gespräch an der Hotelbar und die verwunderte Nachfrage, wieso Hans Herrmann so dermaßen zügig und ohne sich auch nur ein einziges Mal zu verfahren zum Hotel finden konnte. Die Antwort kommt schnell, und sie kommt mit typisch schwäbischem Humor: "Mit achtzig sollte man sich in Rom auskennen."

Der ganz normale Wahnsinn, der in dieser Form nur in Italien existieren kann, strebt heute seinem Höhepunkt zu. Mit der dritten und letzten Etappe hat die Mille Miglia ihre herausforderndsten Pässe, ihre schweißtreibendsten Kurven, ihre schmalsten Gassen, aber auch ihre schönsten Orte auf das 800 Kilometer lange Programm gesetzt. Radicofani, Pienza, Siena, Florenz, Bologna, Mantua: Die Männer, die sich den Kurs der Mille Miglia ausgedacht haben, hätten auch als Reiseführer Karriere gemacht.

Peter Pfeiffer hat in diesem Moment allerdings keinen Blick für die Sehenswürdigkeiten am Straßenrand. Konzentriert pfeilt er den SL 500 den Raticosa hinauf, sucht in den regennassen Rechts-Links-Kombinationen die Ideallinie. Das geschliffene Handling des agilen SL unterstützt die engagierte Fahrweise des Mille Miglia-erfahren Designers, der sich zum Ende des Jahres "in den Unruhestand zurückziehen wird", wie er die kommenden Arbeitsjahre als Professor einer Hochschule für Design und als Vorsitzender des Rates für Formgebung beschreibt. Dicht gefolgt von einem draufgängerischen Hans Herrmann nähert sich der moderne Silberpfeil in hohem Tempo der Passhöhe, auf der eigentlich ein ausgiebiger Fotostopp vereinbart war. Eigentlich. Am Abend wird Peter Pfeiffer dem enttäuschten Fotografenteam den Grund für die unerwartet zügige Durchfahrt erklären: "Ich war absolut sicher, wenn ich jetzt anhalte, fährt mir der Hans hinten rein".

Es ist Nacht geworden in Brescia, es regnet in Strömen. Davon lassen sich allerdings weder die Piloten noch die Zuschauer beeindrucken, die auch noch das letzte Fahrzeug, das hinauf auf die Zielrampe röhrt, enthusiastisch bejubeln.

Auch die schnellen SL haben ihre ganz eigene Sonderprüfung bestanden; der eine, indem er Sportwagengeschichte geschrieben hat, der andere, indem er demonstriert hat, dass er sie fortschreiben wird. Und das sie so ganz nebenbei ihre Fahrer 1000 Meilen lang fasziniert, emotionalisiert und inspiriert haben, das war nicht anders zu erwarten. So etwas passiert, wenn sich Legende und Mythos treffen.

Ein Besuch beim König der Konstrukteure.

Reisenotiz aus meinem Mobile Worte Blog.

Reisenotiz aus meinem Mobile Worte Blog.

Ich weiß nicht, ob Wilhelm Maybach jemals in Neumarkt war. Oder in der Oberpfalz. Was ich weiß ist, dass er dort sehr lebendig ist. Für alle, die ihn besuchen wollen, hier seine Adresse: Holzgartenstraße 8, 92318 Neumarkt.

 Wie Vater und Sohn Maybach, so sind auch die automobilen Kunstwerke, die sie geschaffen haben, echte Persönlichkeiten. Dass sie in Neumarkt so lebendig sind liegt vielleicht daran, dass ihnen Anne und Dr. Helmut Hofmann ein wunderschönes Zuhause geschaffen haben, in denen sich der Geist der Maybachs einfach wohlfühlen muss.

Schon beim ersten Schritt durch das metallene Eingangstor mit dem legendären Doppel-M wird man vom Mythos des legendären „Königs der Konstrukteure“ begrüßt - ein Titel, der dem genialen Wilhelm Maybach 1902 auf dem Pariser Automobilsalon verliehen wurde. Zehn Prozent der noch existierenden Maybach Fahrzeuge sind in der weltweit einzigen Ausstellung versammelt, die ausschließlich die Entwicklung und die Produkte von Wilhelm und Karl Maybach präsentiert. Das heißt, zwischen 18 und 20 der extrem seltenen Meisterwerke aus den 20er und 30er Jahren kann man in den hellen Hallen bewundern, abhängig davon, ob gerade Fahrzeuge in Wartung oder Restaurierung sind. Um dann in aller Ruhe den Geschichten zu lauschen, die sie zu erzählen haben.

In Neumarkt stehen (und fahren manchmal) zehn Prozent des weltweiten Maybach Bestands.

In Neumarkt stehen (und fahren manchmal) zehn Prozent des weltweiten Maybach Bestands.

 

Es gibt Automobile, die können sprechen. Sie erzählen von turbulenten Zeiten, von abenteuerlichen Reisen, von ihren Besitzern und ihren Erbauern. Die Geschichte, die ein Maybach von seinem Konstrukteur erzählen kann, ist eine ganz besondere Geschichte. Es ist die von einer Heldenreise. Denn Wilhelm Maybachs Lebensweg vom kleinen Waisenknaben zum gefeierten Miterfinder des Automobils weist viele der archetypischen Grundmuster einer mythischen Heldenreise auf. Sie beschreibt den Ausgangspunkt in einer tristen Welt des Mangels, führt über die Begegnung mit einem Herold, der das Leben des Helden verändern wird, und dem unerwarteten Erscheinen eines Mentors, der ihn auf seiner Reise stützt und fördert, weiter zu den ersten Bewährungsproben, zur Verbündung mit Freunden und zur Konfrontation mit Gegnern, zu Hoffnung und Trauer, zu Siegen und Niederlagen und schließlich zum -meist glücklichen- Ende der langen Reise. Weil er die Gesellschaft an seiner großen Erfahrung und seinem gesammelten Wissen teilhaben lässt, wird der Rückkehrer mit höchster Anerkennung belohnt.

Die Heldenreise des jungen Wilhelm beginnt, als der zehnjährige Vollwaise vom fürsorglichen Pfarrer Gustav Werner ins Bruderhaus Reutlingen aufgenommen wird, wo der Theologe und Gründer der Einrichtung sehr schnell die außerordentlichen Begabungen des lernwilligen Schülers erkennt und fördert. Sie erzählt von der Begegnung mit einem Mentor, dem Lehrmeister in der Maschinenfabrik, die zum Bruderhaus gehört. Eine Begegnung, die Maybachs Leben komplett verändern wird. Denn von nun an folgt der junge Wilhelm nicht nur seiner wahren Berufung, sondern auch seinem Gönner in ein Abenteuer, das nicht nur Automobilgeschichte schreiben wird. Der Name seines Mentors und lebenslangen Freundes: Gottlieb Daimler. 

Ein liebevoller Blick zurück in die Blütezeit der Automobile.

Ein liebevoller Blick zurück in die Blütezeit der Automobile.

 

35 Jahre lang treibt das kongeniale Gespann die technische Entwicklung zu Land, Wasser und in der Luft voran: Daimler als visionärer Ideengeber, Maybach als genialer Konstrukteur. Für Wilhelm Maybach wird es eine Reise voller Höhen und Tiefen. Auf konstruktive Geniestreiche folgen geschäftliche Niederlagen, auf hohe gesellschaftliche Ehrungen folgen große private Dramen wie die Ermordung eines Sohnes durch die Nazis, auf den späten Aufstieg zum Millionär folgt die Weltwirtschaftskrise, die Maybach das gesamte Vermögen wieder raubt. 

Und wie auf jeder ordentlichen Heldenreise treffen die beiden Helden auf ihrem Weg auf erbitterte Gegner ihrer Visionen, aber auch auf begeisterte Unterstützer ihrer Ideen. Einer davon ist Ferdinand Graf von Zeppelin, für dessen Luftschiff LZ 1 Wilhelm Maybach den ersten Daimler-Motor konstruiert.

Der Tod von Gottlieb Daimler ist ein herber Schlag für Wilhelm Maybach. Innerhalb eines Jahres vollendet Maybach den Lebenstraum seines Freundes und entwickelt das erste Hochleistungsfahrzeug, einen tiefliegenden Rennwagen mit einem 35 PS Vierzylinder, zwei Vergasern, Zahnradgetriebe und dem noch heute aktuellen Bienenwabenkühler. Benannt wird der in zahlreichen Rennen erfolgreiche Wagen nach der Tochter des österreichischen Auftraggebers: Mercedes. Nur wenige Jahre später krönt Maybach den damaligen Automobilbau mit einem Sechszylinder-Rennmotor, der mit obenliegender Nockenwelle, hängenden Ventilen und Doppelzündung erstaunliche 120 PS leistet.

Konstruiert wurde das technische Meisterstück gemeinsam mit einem deutlich jüngeren Weggefährten Maybachs: Wilhelms ebenso genialem Sohn Karl, der nach seinem Maschinenbau-Studium als hochtalentierter Versuchsingenieur in die Daimler-Motoren-Gesellschaft DMG eingestiegen ist. Die Reise nimmt eine weitere Wendung.

Es folgen turbulente Jahre. Im Ärger verlässt Maybach die DMG und gründet zusammen mit seinem Junior die Luftfahrzeug-Motorenbau-GmbH, später unbenannt in Maybach Motorenbau, der Geburtsstunde des berühmte MM Markenzeichens. Statt der bisher verwendeten Vierzylinder setzt Karl Maybach auf die weit kultivierteren und laufruhigen Sechszylinder-Motoren, die sich deutlich besser für Luftschiffe eignen, deren Aufstieg von Graf Zeppelin unermüdlich vorangetrieben wird. 

Eingemauert, um den 2. Weltkrieg zu überleben: Ein Maybach SW 38.

Eingemauert, um den 2. Weltkrieg zu überleben: Ein Maybach SW 38.

 

An dieser Stelle verlassen wir die luftige Reise und folgen unten auf dem wachsenden Straßennetz dem langgehegten Traum Karl Maybachs: dem Bau von Automobilen. Nicht irgendwelchen, sondern den schönsten, größten und technisch perfektesten, die die Welt je gesehen hat. Wie formuliert es die Broschüre des Maybach Zeppelin so selbstbewusst: „Nur Bestes aus Bestem zu schaffen, von dauerndem Wert, in höchster Vollendungsform neuen Entstehens.“ Ein hoher Anspruch, aber auch einer, den der geniale Perfektionist Maybach einlösen wird.

Die konstruktive Basis der Maybach-Fahrzeuge bilden die potenten und laufruhigen Sechszylinder aus dem Luftschiffbau. Nachdem sich für die in Serie hergestellten Motoren kaum Abnehmer in der Fahrzeugindustrie finden, feiert 1921 der erste Maybach auf der Deutschen Automobil-Ausstellung in Berlin Premiere. Mit seinem 5,7 Liter Motor, 70 PS und innovativer Vierradbremse mit ausgeklügeltem Bremskraft-Ausgleichssystem zählt der M 3 auf Anhieb zu den hochwertigsten und technisch vollkommensten Luxuswagen seiner Zeit. Gebaut wird ausschließlich auf Bestellung und in Handarbeit, die Aufbauten liefern renommierte Karosseriebaufirmen wie Auer, Erdmann & Rossi, Gläser und Spohn. Auf die Sechszylinder-Typen folgt 1929 der erste deutsche Zwölfzylinder, und der ein Jahr später vorgestellte Maybach Zeppelin bildet für ein Jahrzehnt die Krone des deutschen Automobilbaus. Mitten im zweiten Weltkrieg endet die Ära der Maybach-Wagen, nur 1.800 dieser legendären Meisterwerke werden gebaut. Und bilden den Mythos Maybach, den heute schätzungsweise nur noch 160 Exemplare lebendig halten.

Automobil? Kunstwerk? Automobiles Kunstwerk.

Automobil? Kunstwerk? Automobiles Kunstwerk.

 

Man muss kein Maybach Enthusiast sein, um einen Maybach als Kunstwerk zu begreifen. Man muss nur einen Blick auf die zahlreichen, ebenso liebe- wie kunstvoll gestalteten Details werfen: Auf die wunderschönen Instrumente in ihren Chromringen, die das massive Lenkrad umrahmen, auf die feinen Türverkleidungen aus rotem Leder, auf spiegelnde Lackoberflächen und Echtholzeinlagen, die ein äußerst harmonisches, sinnliches Ganzes formen - ein Maybach kein gewöhnliches Automobil, sondern ein automobiles Kunstwerk, zu dem jeder Besitzer eine innige, fast familiäre Beziehung pflegt.

Erleben kann man die faszinierende Aura dieser technischen Meisterwerke noch heute, und zwar an einem Ort mit einer ebenfalls langen Geschichte: den ehemaligen Express Werken in Neumarkt/Oberpfalz, in deren Hallen von 1884 bis 1959 Fahrräder, Mopeds und Motorräder gebaut wurden. Ihnen zu Ehren ist übrigens eine kleine Sonderausstellung im gewidmet, die ebenfalls sehenswert ist.

Das Besondere am Maybach Museum ist jedoch, dass hier jedes einzelne Exemplar seine eigene Geschichte erzählen kann. Es sind fesselnde Geschichten aus einer abenteuerlichen Zeit, die als das goldene Zeitalter der Automobile gilt. Sie erzählen von genialen Konstrukteuren, deren imposante Schöpfungen nicht auf Effizienz getrimmt sind, sondern mit Leidenschaft, Innovationsgeist, Perfektionsstreben und einer deutlich sichtbaren Liebe zum Detail entstehen, und deren Erbauer ihren persönlichen künstlerischen Neigungen nahezu ungehindert Ausdruck verleihen konnten - vorausgesetzt, das Bankkonto der oft exzentrischen Käufer war gut gefüllt. 

Es sind Geschichten von Bischöfen, Grafen, Prinzen und Prinzessinnen. Wie die vom „Schwarzen Prinz“, dem Star des Genfer Automobilsalons von 1938, der nach dem 2. Weltkrieg von der Witwe des Erstbesitzers an einen deutschen Rechtsphilosophen verkauft wurde. Dessen Liebe zu diesem außergewöhnlich eleganten Einzelstück ging so weit, dass er sein Studium unterbrach und eine Lehre als Kfz-Mechaniker absolvierte, um seinen geliebten Maybach selbst warten zu können. Oder die Geschichte vom weißen Zeppelin Cabriolet, das 1930 an einen Freund Wilhelm Maybachs nach Venezuela verkauft wurde. Bis 1939 wurde der weiße Maybach Jahr für Jahr von Südamerika nach Europa verschifft, damit die Familie des Besitzers ausgedehnte Reisen in der alten Heimat unternehmen konnte, die dann regelmäßig im Palace Hotel in Gstaad endeten.

Ein wunderschöner schwarzer Prinz.

Ein wunderschöner schwarzer Prinz.

 

Wer sich auf die Spuren des Mythos Maybach begeben will, muss keine Heldenreise auf sich nehmen. Mit dem Auto oder der Bahn ist das Museum für historische Maybach-Fahrzeuge in Neumarkt in der Oberpfalz leicht zu erreichen. Um am Ende der Reise seinen Fuß in eine andere Welt zu setzen. Für Anne und Dr. Helmut Hofmann, den Besitzern, Kuratoren und Maybach-Jägern und Sammlern ist es wichtig, dass sich an diesem geschichtsträchtigen Ort, an dem historische Bausubstanz und moderne Architektur stilvoll verschmelzen, nicht nur die automobilen Persönlichkeiten wohlfühlen, sondern auch die Besucher. Sie sollen sich gerne die Zeit nehmen, die kostbaren Zeitzeugen zu betrachten und ihren Geschichten zu lauschen.

Und da wir gerade bei Geschichten sind: Wie viel Schweiß, Zeit, Geld und Nerven der nicht ganz hindernisfreie Weg zur Realisierung ihres musealen Herzensprojekts gekostet hat, davon können die sympathischen Hofmanns  ebenfalls eine Menge erzählen. Ein Weg, der in vielen Jahren zu ihrer kleinen, ganz persönlichen Heldenreise geworden ist.

Aber das ist schon wieder eine ganz andere Geschichte.

Informationen:

Maybach Museum

Alle Fotos:

Daniela Haug